Mittwoch, 28. November 2012

John Boyne: Das Haus zur besonderen Verwendung

Bewertung: *****

London 1981. Georgi Daniilowitsch Jatschmenew lebt seit fast 60 Jahren mit seiner Frau Soja in England. Doch ihre Heimat ist Russland. Soja ist schwer erkrankt und Georgi blickt auf unterschiedliche Epochen seiner und ihrer Vergangenheit zurück.
Russland 1915. Der 16jährige Bauernjunge Georgi rettet einem Mitglied der russischen Zarenfamilie das Leben. Zum Dank wird er zum ständigen Begleiter des Zarewitsch Alexei ernannt und entkommt so seiner bäuerlichen Abstammung. St. Petersburg wird zu seiner neuen Heimat und Georgi zum Vertrauten des jungen Erben. Hier macht er auch die Bekanntschaft der Schwestern des Zarewitschs und fühlt sich besonders zur jüngsten Schwester Anastasia hingezogen. Doch eine Liebe zwischen den beiden jungen Menschen so ungleicher Abstammung kann keine Zukunft haben. Russland befindet sich im Krieg und die Bolschewiken erstarken immer mehr ...


Ich habe mehr als sonst überlegen müssen, wie ich dieses Buch bewerte. Dabei habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie wichtig die historisch korrekte Darstellung in einem Roman ist und ob diese nicht zugunsten einer hervorragenden Umsetzung zurückgestellt werden darf. Ich habe mich schließlich dazu durchgerungen, John Boynes Roman "Das Haus zur besonderen Verwendung" die volle Punktzahl zu geben, obwohl er sich eben in einem entscheidenden Punkt nicht an historisch verbriefte Tatsachen hält.
"Das Haus zur besonderen Verwendung" hat in mir den Wunsch geweckt, dass es sich vielleicht doch so ergeben haben könnte wie John Boyne sich hier die literarische Freiheit heraus nimmt. Denn ist Literatur nicht eigentlich auch nichts anderes als die moderne Form des Märchens? Der menschliche Leser liebt die Harmonie und so wünschte auch ich mir, dass sich Prinz und Prinzessin schließlich finden mögen und glücklich lebten bis an ihr Lebensende. Ganz so illusorisch ist John Boyne dann doch nicht an die Geschichte heran gegangen. Das Leben selber ist kein Märchen und wird geprägt von Höhen und Tiefen. Es ist ein ständiges auf und ab zwischen dem Glück zu Leben und der Gewissheit, dass dieses Glück nicht jedem vergönnt war. Es ist die schwierige Frage ob man sein Leben noch genießen kann und darf mit dem Wissen, welche Opfer auf dem Lebensweg zurückgelassen wurden. John Boyne zeigt hier die schwierige Balance die Soja und Georgi in ihrem Leben meistern müssen und oft stehen sie kurz vor dem Abgrund. Es ist ein Roman voller Trauer und Krieg, jedoch auch erfüllt von Momenten des Glücks und der Hoffnung.
Stilistisch zählt John Boyne für mich zu einem der ganz großen zeitgenössischen Erzähler. Nach "Der Junge im gestreiften Pyjama" beweist er hier einmal mehr, dass Geschichte durchaus zeitgemäß erzählt werden kann. Mit Georgi hat er einen Erzähler gefunden, der als Außenstehender die Geschichte der Zarenfamilie wiedergeben kann und ihr dennoch eine persönliche Note verleiht. Der Autor geht hierbei in zwei Erzählsträngen vor. Zum einen erleben wir den 82 jährigen Georgi, der im Jahr 1981 in London am Krankenbett seiner Frau Soja sitzt. Von diesem Zeitpunkt aus, erinnert er sich rückblickend an Episoden seiner Vergangenheit bis zu dem Zeitpunkt als "Soja" in sein Leben tritt. Unterbrochen werden diese Abschnitte durch die Ereignisse im Zarenreich von 1915 – 1918. Beginnend mit dem Ereignis, das so großen Einfluss auf Georgis weiteres Leben hatte (das Attentat auf ein Mitglied der Zarenfamilie) bis hin zur Mordnacht am 17.Juli 1918 in der die russische Zarenfamilie ausgelöscht wurde, schildert Georgi seine Begegnungen mit der Zarenfamilie, die politischen Umbrüche im Land und die Standpunkte der Bolschewiken und einfachen Bevölkerung.
Doch natürlich steht hier nicht nur die Politik im Vordergrund, sondern auch die Geschichte einer Liebe, die Standesunterschiede überbrückt und hofft, wo eigentlich keine Hoffnung mehr ist.
Da ich selber schon in St. Petersburg war, haben mir auch die Beschreibungen von Georgis Eindrücken der Stadt und des Winterpalais sehr gut gefallen.
Einen kleinen Kritikpunkt habe ich dann doch noch. Eine Aufwertung hätte dieses Buch noch durch einen Stammbaum, ein Personenregister oder Landkarten der Zarensitze erhalten. Ein kleiner Trost ist hier die Internetseite des Verlags: www.zurbesonderenverwendung.de, die neben Beschreibungen auch eine Reihe von Fotografien der Zarenfamilie bietet.



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